Augen

Newsletter 2/14

 

Inhalt

1. Editorial
2.Vorschau auf das 20. Festival „kunst : verrueckt“
3. Buchempfehlungen: Von legalen und illegalen Drogen
4. Termine
5. Ihre Unterstützung
6.Abonnement und Kontakt
7.Impressum

1. Editorial

Liebe Freunde des Sächsischen Psychiatriemuseums,
auf einem Treffen der Psychiatriemuseen im Juni in Göppingen wurde über Wege zu einer engeren Vernetzung und Zusammenarbeit diskutiert. Auch unser Newsletter soll zukünftig noch besser über die Aktivitäten der anderen Häuser informieren. Vielleicht haben Sie die Möglichkeit, im Urlaub eines der Psychiatriemuseen zwischen Bremen und München zu besuchen. Auf der Homepage des Museele (www.museele.de) geben Rolf Brüggemann und seine Mitstreiter einen hervorragenden Überblick, wo in Deutschland und der Nachbarschaft Museen mit einem psychiatriegeschichtlichen Hintergrund zu finden sind. Natürlich kann auch unser Haus in den Sommermonaten zu den bekannten Öffnungszeiten besichtigt werden. Neben Terminen geben wir in diesem Newsletter wieder einige Buchempfehlungen zur Urlaubslektüre.

Mit besten Grüßen
Ihr Thomas R. Müller
Sächsisches Psychiatriemuseum

2. Vorschau auf das 20. Festival „kunst : verrueckt“

Wie verrückt ist die Kunst? Wie kreativ ist die Psychiatrie?
Bereits zum 20. Mal veranstaltet der Durchblick e.V. in Leipzig das Festival „kunst : verrueckt“. In dem Festivalprogramm vom 2. bis 17. Oktober finden sich auch wieder Veranstaltungen zu psychiatriehistorischen Themen.
Zum Festivalauftakt wird die Ausstellung „Der dreifach diplomierte Idiot – Das Phänomen Erich Spießbach“ (2.10.) eröffnet, die bereits mit Erfolg u.a. in Gotha, Münster und Bremen gezeigt wurde. Mit dem Visionär und Flugfahrradkonstrukteur Gustav Mesmer, einem der bedeutendsten Außenseiterkünstler des 20. Jahrhunderts, befasst sich ein Vortrag von Dr. Wolfram Voigtländer. (14.10.)
In Kooperation mit dem Projekt SCHAUPLATZ erhält das Psychiatriemuseum Modelle historischer Behandlungsinstrumente. Das „Hohle Rad“ und eine Drehmaschine werden am 15.10. präsentiert und erläutert.
Außerdem gibt es Lesungen mit Sophie Dannenberg (Roman „Teufelsberg“ am 7.10.) und Lena Kornyeyeva („Die sedierte Gesellschaft“ am 8.10., siehe Buchempfehlung), weitere Ausstellungen, Filme und eine Benefizveranstaltung mit Leipziger Künstlern und Persönlichkeiten am 6.10. in der Moritzbastei.

Das vollständige Programm wird im nächsten Newsletter und Anfang September auf der Homepage www.kunst-ist-verrueckt.de veröffentlicht.

3. Buchempfehlungen: Von legalen und illegalen Drogen

Zwei Neuerscheinungen beschäftigen sich mit der zunehmenden Pathologisierung unsere Seele. Und beide Bücher warnen eindringlich vor den Auswirkungen dieser Entwicklung auf die Gesellschaft. Jörg Blech, der Autor des Buches „Die Psychofalle. Wie die Seelenindustrie uns zu Patienten macht“ arbeitet für den SPIEGEL und hat sich mit seinen Büchern und Beiträgen einen Namen als kritischer Medizinjournalist gemacht. Die Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit, so seine Ausgangsthese, werde durch die Etablierung immer neuer Diagnosen und die Erfindung entsprechender Medikamente mehr und mehr verschoben. Der so zum seelisch Gestörten abgestempelte Mensch könne keinen Protest mehr gegen jene gesellschaftlichen Zustände organisieren, die ihn in die Psychofalle getrieben haben. Die Helferindustrie habe in erster Linie das Ziel, Geld zu verdienen. Und wie das funktioniert, macht Blech an zahlreichen Beispielen deutlich.
Eine entscheidende Rolle spielt das von der American Psychiatric Association herausgegebene Klassifizierungssystem DSM. Wird eine neue Krankheit von den Autoren, den „Oligarchen der Psychiatrie“, in diese „Bibel der Psychiater“ aufgenommen, dann steht die Pharmaindustrie bereit, um neue oder einfach umetikettierte Medikamente auf den Markt zu bringen. Besorgniserregend ist, dass viele dieser Experten (in Deutschland fast alle Klinikdirektoren) auf den Gehaltslisten der Pharamindustrie stehen. Sie betreiben damit, so Blech, in erster Linie eine „Seelsorge für die Industrie“. Dabei werden eigentlich normale Alltagsprobleme, die ihre Ursachen zumeist in den sozialen Verwerfungen unseres Gesellschaftssystems haben, zu psychischen Störungen gemacht. Oder normale Alterserscheinungen wie die Vergesslichkeit erhalten eine Diagnose wie die “milde kognitive Beeinträchtigung“, die dann als Vorstufe der Demenz mit Medikamenten zweifelhafter Wirksamkeit wie Aricept behandelt wird. Dieser „Psycho-Light-Boom“ führe, so Blech, auf der anderen Seite dazu, dass für die Menschen, die unter psychischen Erkrankungen leiden, Ressourcen fehlen. Blech hat in der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur recherchiert und zahlreiche Experten befragt. Er kann auf diese Weise seine journalistisch auf den Punkt gebrachten Thesen kompetent und faktenreich belegen. Sein warnendes Resümee: „Lassen wir uns nicht irremachen!“

Lena Kornyeyeva, die Autorin des Buches „Die sedierte Gesellschaft. Wie Ritalin, Antidepressiva und Aufputschmittel uns zu Sklaven der Leistungsgesellschaft machen“ ist Psychologin und arbeitet an einer Rehaklinik. Ihre Patienten haben zumeist keine psychischen Erkrankungen, und doch leiden sie an Körper und Seele und nehmen Psychopharmaka. Die Gefahren, die sich daraus für den Einzelnen, aber auch für unsere Gesellschaft ergeben, zeigt Kornyeyeva in ihrem Buch auf: Wir sind auf dem Weg in eine sedierte, gesteuerte, unfreie Gesellschaft und der oftmals unkritische Konsum von Psychopharmaka leistet dazu einen erheblichen Beitrag. Während harte Drogen gesellschaftlich geächtet sind, finden die legalen Drogen in der Mitte der Gesellschaft eine immer stärkere Akzeptanz. Kornyeyeva verweist auf die erstaunliche Karriere einiger dieser Mittel. So wurde das heutige Chrystel Meth unter dem Namen Pervitin als „Panzerschokolade“ oder „Hermann-Göring-Pillen“ bereits im 2. Weltkrieg in der Wehrmacht eingesetzt, um die Soldaten leistungsfähiger zu machen und ihre Ängste zu unterdrücken. Dagegen hat sich das als Antidepressivum auf den Markt gebrachte Prozac inzwischen in den USA zu einem Lifestyle-Medikament entwickelt. Auch das bereits in den 50er Jahren entdeckte Ritalin, das seit den 70er Jahren bei Kindern („Kinder-Koks“) angewandt wird, wird inzwischen bei Studenten und den „Leistungsträgern“ als Hirndoping missbraucht. Kornyeyeva beschreibt an zahlreichen Einzelschicksalen, dass viele ihrer Patienten Opfer eines immer stärker werdenden Normierungsdruckes sind, der bereits in Krippe und Kindergarten einsetzt und spätestens im Arbeitsleben für Menschen zu einer krankmachenden Belastung wird, die sich oft in körperlichen Beschwerden offenbart und häufig mit Psychopharmaka behandelt wird. Statt sich ihrer eigenen Gefühle bewusst zu werden, sich gegen Normierung, Entfremdung und Konsumorientierung zu wenden und damit den Ursachen für die Erkrankung auf den Grund zu gehen, würden immer mehr Menschen dem magischen Glauben an Psychopharmaka verfallen, der von einer mächtigen Pharmalobby stetig gesteigert wird. In letzter Konsequenz sieht Kornyeyeva die Gefahr einer negativen Evolution, indem die Menschen ihren Verstand mit bewusstseinserweiternden Medikamenten manipulieren und sich damit der eigenen Handlungsfreiheit berauben.

„Nie zuvor war es so leicht, an eine psychiatrische Diagnose zu kommen, konstatiert Michaela de Groot in ihrem Buch „Von Postboten, Partygags und Immerfindern“. De Groot kennt die Psychiatrie aus der Perspektive der Fachkraft, der Angehörigen und Patientin. Der auch von ihr beobachteten ständigen Ausweitung der Behandlung mit Psychopharmaka setzt die Autorin die Bedeutung der zwischenmenschlichen Begegnung entgegen. In vielen der in dem Band versammelten 26 Sachgeschichten geht es um das Thema Kommunikation in der Psychiatrie bzw. über die Psychiatrie. Die Sprache ist ein wichtiges Instrument, um einander im wahrsten Sinne verstehen zu können. Aber auch die Körper- und Bildsprache sowie künstlerische Ausdrucksformen werden als Möglichkeit für ein besseres gegenseitiges Verständnis beschrieben.
Michaela de Groot erinnert an die frühen Zeugnisse der kritischen Auseinandersetzung mit der Psychiatrie aus Betroffenensicht und zeigt die Veränderungen auf, die sich in den vergangenen Jahrzehnten im Verhältnis zwischen Ärzten und Patienten vollzogen haben. Heute haben sich die Psychiatrie-Erfahrenen selbst organisiert, Psychoseminare werden von den sich darauf einlassenden Professionellen als Bereicherung empfunden und die Stärkung der „Peer“-Beratung durch Projekte wie EX-IN zeigt Möglichkeiten auf, sich in der Psychiatrie auf gleicher Augenhöhe zu begegnen.
Vor dem Hintergrund solcher Entwicklungen hält die Autorin die heutige Psychiatrie mit ihren Lobbystrukturen und Gewalttendenzen gesellschaftlich für einen lebenden Anachronismus.
„Die Wertschätzung der Betroffenen stärkt die Helfer und umgekehrt… Die Pharmaindustrie hat keinen Grund mehr zu jubeln, wenn aufmunternde Geschichten, stabile Sozialkontakte und ein wohldosiertes Stückchen Schokolade den Botenstoffhaushalt im Gehirn genauso gut regulieren wie die teuren und gefährlichen Medikamente.“
Vielleicht liegt darin eine Alternative zu dem Weg in die „Psychofalle“ oder die „sedierte Gesellschaft“.

Mit den Themen Therapie und Drogen beschäftigt sich der Schriftsteller und Journalist Joachim Lottmann auf eine ganz eigene Weise. Bereits 2011 erschien der Roman „Unter Ärzten“. Darin begibt sich ein mäßig erfolgreicher Schriftsteller auf dringenden Wunsch seiner Freundin in das therapeutische Dickicht. Auf seiner jahrelangen Psycho-Tour begegnen ihm Therapeuten aller Couleur, vom Doktor „Kinski“ über den Hypnotiseur Dr. Carrieres (Kajääähr), der ihm mit einer Crash-Therapie ein neues Lebensprogramm von „ich muss scheitern“ zu „ich werde siegen“ verspricht, bis hin zum Verhaltensforscher mit der Methode des „zärtlichen Zuhörens“. Während dieses Seelen-Trips, den Lottmann mit Witz, Lakonie und ungebremstem Spaß am Fabulieren schildert, geht die Beziehung zu seiner Freundin, die in einem indischen Ashram ihren Verstand verliert, endgültig in die Brüche. Nachdem auch die neue Geliebte einem Guru zum Opfer fällt, kommt der Protagonist zu dem durchaus hilfreichen Resümee, „dass es mindestens der Hälfte aller Menschen genauso schlecht geht wie einem selber.“
In seinem neuesten Roman „Endlich Kokain“ schickt Joachim Lottmann seinen Anti-Helden auf eine sehr spezielle Selbsterfahrungsreise in die Wiener und Berliner Kunst- und Medien-Schickeria. Der frühpensionierte Fernsehredakteur Stephan Braum leidet unter Übergewicht, in dessen Folge ihm von den Ärzten der baldige Tod prophezeit wird. Sein hoffnungslos langweiliges Leben ändert sich komplett, als er mit einer „Kokain-Diät“ beginnt. Braum startet eine Drogenkarriere, begleitet von Sigmund Freuds „Schriften über Kokain“, den er zum Arzt seines Vertrauens erklärt. In einem „wissenschaftlichen Tagebuch“ protokolliert er Dosis und Wirkung: die Pfunde purzeln, die Frauen begehren ihn und seine Persönlichkeit verändert sich. Plötzlich ist Braum mitten drin in der oberflächlichen, exaltierten und gleichzeitig verlogenen Szene.
Lottmann wird seinem Ruf als Pop-Literat gerecht, der atmosphärisch dicht und gespickt mit delikaten Anspielungen durchs Schlüsselloch in die Welt des Kunst- und Kulturbetriebs blickt. Immerhin gelingt auch Stephan Braum am Ende der furiosen Geschichte der Ausstieg aus dieser schon real existierenden sedierten Gesellschaft.

Jörg Blech, Die Psychofalle. Wie die Seelenindustrie uns zu Patienten macht, S. Fischer 2014, ISBN 978-3-10-004419-8, EUR 19,99
Lena Kornyeyeva, Die sedierte Gesellschaft. Wie Ritalin, Antidepressiva und Aufputschmittel uns zu Sklaven der Leistungsgesellschaft machen, Wilhelm Heyne Verlag, 2014, ISBN 978-3-453-20060-9, EUR 12,99
Michaela de Groot, Von Postboten, Partygags und Immerfindern. Sachgeschichten aus der Psychiatrie, novum publishing, 2013, ISBN 978-3-99010-593-1, EUR 12,10
Joachim Lottmann, Unter Ärzten, Kiepenheuer und Witsch, 2011, ISBN 978-3-462-04012-8, EUR 8,99
Joachim Lottmann, Endlich Kokain, Kiepenheuer und Witsch, 2014, ISBN 978-3-462-04635-9, EUR 9,99

Thomas R. Müller

PS: Falls Sie eines der Bücher lesen möchten, wenden Sie sich doch bitte an den Buchhändler Ihres Vertrauens oder nutzen Sie den Service des Mabuse-Buchversands, über den Sie jedes lieferbare Buch bestellen und gleichzeitig ein unabhängiges gesundheitspolitisches Verlags- und Zeitschriftenprojekt unterstützen können: www.mabuse-verlag.de/Mabuse-Buchversand/Willkommen

4. Termine

Psychiatriegeschichtliche Stadtführung in Leipzig
30. Juli, 14:00 Uhr (ca. 90 min.)
Treffpunkt: Naturkundemuseum
Teilnahme: 6 / erm. 5 EUR


Wanderausstellung
„Welche Fülle von Elend, aber auch welche Gelegenheit zu helfen und zu dienen!“
125 Jahre Ausbildung von psychiatrischem Pflegepersonal in Sachsen

09.07.14 – 30.08.2014
Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein

03.09.14 – 28.09.2014
Sächsisches Krankenhaus Großschweidnitz

07.10.14 – 15.11.2014
Sächsisches Krankenhaus Altscherbitz


Festival kunst : verrueckt
02.10. – 17.10.2014
Leipzig


24. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde (DGGN)

25. bis 27. September 2014 in Eberswalde


Programm und Informationen:
Flyer

Kontakt:
Dr. med. Ulrike Eisenberg
Neurochirurgische Klinik
Klinikum Barnim
Werner Forßmann Krankenhaus
Rudolf-Breitscheid-Str. 100
16225 Eberswalde
Tel.: 030/ 4419068
Fax: 030/ 46309232
E-Mail: wlmailhtml:ulrikeeisenberg@hotmail.com

Gern veröffentlichen wir an dieser Stelle auch Ihre psychiatriegeschichtlichen Veranstaltungen und Termine.
Der nächste Newsletter erscheint im Mai 2014.

5. Ihre Unterstützung

Da unser Projekt über keine dauerhaft gesicherte Finanzierung verfügt, benötigen wir Ihre Unterstützung. Jede Spende hilft uns. Auf Wunsch stellen wir Ihnen gern eine Spendenquittung aus.
Spendenkonto:
Konto-Nr.: 3 52 14 02
IBAN: DE 64860205000003521407

BLZ: 860 205 00
Bank für Sozialwirtschaft
Stichwort: Psychiatriemuseum

6. Abonnement und Kontakt

Um den Newsletter abzubestellen oder mit uns Kontakt aufzunehmen, schicken Sie uns bitte eine Mai an:

7.Impressum

Herausgeber:Sächsisches Psychiatriemuseum
des Vereins Durchblick e.V.
Verantwortlich im Sinne des Presserechts: Thomas R. Müller

Redaktionsschluss: 23.07.2014

www.psychiatriemuseum.de
www.durchblick-ev.de
www.kunst-ist-verrueckt.de

© Sächsisches Psychiatriemuseum Mainzer Straße 7  04109 Leipzig

 

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