Augen

Von der therapeutischen Gemeinschaft zur personzentrierten Psychotherapie

Zur Psychiatriereform in Leipzig und der Ideengeschichte Klaus Weises


Von Ulrich Kießling


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Klaus Weise, als 1929 Geborener Angehöriger der sogenannten »Flakhelfergeneration«, studiert nach dem Abitur Medizin in Leipzig. Beide Eltern waren Ärzte. Weise hatte nach eigenen Aussagen keine besonderen Neigungen zum Arztberuf und wäre lieber Naturforscher oder Förster geworden. Ab 1953 ist er Assistent an der neurologisch-psychiatrischen Klinik der gerade in Karl-Marx-Universität umbenannten Leipziger Hochschule. 1956 wird er zunächst wegen ärztlichen Notstands an das Fachkrankenhaus Rodewisch »abkommandiert«, bleibt dann aber für knapp zwei Jahre freiwillig dort. In dieser Zeit wird er zunächst Oberarzt und etwas später Facharzt für Psychiatrie und Neurologie. Er erlebt eine völlig überbelegte Verwahrpsychiatrie und teilweise massive »Verrücktheit« in den Krankensälen. Es wird vor allem mit Elektrokrampftherapie behandelt, die Wärter suchen die behandlungsbedürftigen Patienten oft nach disziplinarischen Kriterien aus (vgl. Kisker: Die Herren der Klinik). Weise wird in einer Beurteilung bescheinigt, besondere Initiative bei der Einführung der Insulinkomabehandlung auf der Frauenaufnahmestation gezeigt zu haben. Von Brom und Phenobarbital abgesehen, kommen Medikamente erst in den folgenden Jahren auf;  sozio- oder psychotherapeutische Behandlungen spielen keine Rolle. Immerhin lernt Weise in Rodewisch Karl Peter Kisker kennen, damals schon neben Heinz Häfner Oberarzt in Heidelberg unter Prof. Walter Ritter von Bayer. Kisker dürfte Weise nicht nur die Heidelberger Schule näher gebracht haben [1], sondern auch seine Ideen einer subjektorientierten Reform der Psychiatrie. Kisker hat u.a. später in Heidelberg einen Medizinstudenten als (verdeckt) teilnehmenden Beobachter in das Team der überwiegend kustodial ausgerichteten Pflegekräfte einschleusen lassen, um das Team später mit den emotionalen Erfahrungen des Forschers zu konfrontieren. Im Ansatz ähnliche Projekte hat Weise in Leipzig umgesetzt, auch wenn ihm die Möglichkeit fehlte, sie publizistisch auszuwerten. Die Freundschaft der beiden dauert an, bis sie ihre Lehrstühle in Hannover und Leipzig innehaben, unter Einschluss des Sozialpsychiaters Erich Wulff und des Philosophen Achim Thom. Eine derart enge Kooperation zwischen einer ost- und einer westdeutschen Klinik ist nicht vorgesehen im real existierenden Sozialismus und ist Gegenstand der Observation durch die Staatssicherheit und wird kritisch beäugt von »der Partei«.

Wie war die Psychiatrie inhaltlich ausgerichtet in dieser Zeit?

Aufgrund  der in den 50er Jahren üblichen pawlowistischen Propaganda [2], für die Weises Chef Müller-Hegemann steht, hat Weise zu dieser Zeit kaum Möglichkeiten, eine formelle psychotherapeutische Ausbildung zu absolvieren. Die ersten Ansätze für eine curriculare psychotherapeutische Weiterbildung in der DDR entwickelt Kurt Höck Ende der 60er Jahre. Organisierte Weiterbildungen in Gesprächstherapie entstehen etwa 1980.

Weise nimmt bei einer Oberärztin im Medizinisch-Poliklinischen Institut in der Härtelstraße an Seminaren in psychodynamischer Kasuistik teil. An der theologischen Fakultät wird er mit Karl Barths Ontologie bekannt. Die Richtung, an der er persönlich interessiert ist, ist die Daseinsanalyse. Er liest Texte von Ludwig Binswanger, Victor von Gebsattel,  Jörg Zutt, später auch von Werner Blankenburg, ohne die Möglichkeit des fachlichen Austauschs.



[1]Die Psychopathologie in der Tradition Karl Jaspers, Hans W. Gruhles und Kurt Schneiders blieb für Weise ein wichtiger theoretischer und klinischer Anknüpfungspunkt vor allem als Gegenpol und Widerpart zu den Vorstellungen der Tradition Wernicke, Kleist, Leonhard, die in der DDR großen Einfluss hatte.

[2)Von Propaganda zu sprechen scheint mir opportun, da eine Implementierung der Pawlowschen Ideen in die klinische Praxis fast überall unterblieb, allenfalls kann die Schlaftherapie in diesem Zusammenhang genannt werden, aber auch die wurde nur halbherzig praktiziert und bei erster Gelegenheit wieder fallen gelassen (vgl. Tögel in Geyer S. 96)

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Den damals in Leipzig praktizierenden Analytiker Beerhold [3] hört er am psychologischen Institut –  der ist ihm jedoch zu »orthodox«. Müller-Hegemann ist zwar ausgebildeter Neoanalytiker der Schultz-Hencke-Richtung und hat sich mit einer Arbeit über psychodynamische Psychosentherapie habilitiert, allerdings praktiziert er in der Klinik [4] eine stark an Pawlow orientierte Ausrichtung, die er erst rationale Psychotherapie nennt, später nach der Flucht in den Westen Autogene Psychotherapie. In den frühen 60er Jahren denunziert er Weise gegenüber der Partei als Daseinsanalytiker, was zu einer Zeit, als nicht nur Anpassung, sondern absolute Unterwerfung gefordert wurde, durchaus gefährlich war. Der Sekretär des zuständigen SED-Leitungsgremiums  versucht zu vermitteln, indem er Weise in Kontakt mit Achim Thom bringt, dem damaligen Leiter der Lehrgruppe Marxismus/Leninismus an der Medizinischen Fakultät. Diese Beziehung wird für den eher »schizoiden« Weise, der kaum in der Lage ist, sich den ideologischen Zumutungen elegant zu entziehen, zahlreiche positive Folgen haben: Unter anderem entsteht aus dieser Zusammenarbeit das legendäre Parteilehrjahr über Martin Heideggers Hauptwerk »Sein und Zeit«, das von der Parteigruppe gemeinsam gelesen wird. Später wird Thom die marxistisch orientierte philosophische Unterfütterung des sozialpsychiatrischen wie des psychotherapeutischen Projekts Klaus Weises übernehmen. Aus dem gedachten Aufseher wird ein wichtiger Mitstreiter.
Doch auch Klaus Weise selbst hat sich trotz seiner offensichtlich ontologischen Orientierung immer auch für einen Marxisten gehalten. Nur verstand er Marxismus wohl eher im Sinne Ernst Blochs als konkrete Utopie, die auch messianische Züge trug, denn im Sinne des poststalinistischen Mainstreams. Die Denker, auf die er sich am häufigsten außerhalb der Fachwissenschaft der Psychiatrie bzw. Psychopathologie bezog, waren Michel Foucault und Jürgen Habermas. Habermas‘ Idee von der Entkopplung von System und Lebenswelt mit der Folge zunehmender Lebensweltpathologien war für Weise ein zentrales Paradigma zur Betrachtung sozialpsychiatrischer Phänomene. An Foucault interessierten ihn die frühen Arbeiten zur Psychiatrie, die Verrücktheit vor allem als Entfremdung des Einzelnen in einer rationalisierten Welt interpretiert. Er möchte den Dialog mit dem Subjekt des psychisch Erkrankten wieder aufnehmen, die Verwahrung überwinden. Ein solches Verständnis des Marxismus war damals nicht nur unerwünscht, sondern führte zuweilen zu grausamen Repressionen: Blochs Assistent Jürgen Teller verlor einen Arm bei der Produktionsbewährung in der Braunkohle. Ärzte hätte es wohl nicht so hart getroffen; sie waren für die nie gesicherte Aufrechterhaltung der Versorgung unentbehrlich.
Weises eher theoretischer Zugang zur Psychotherapie ändert sich, als er 1958 an die von Christian Wieck geleitete Kinderabteilung der neurologisch-psychiatrischen Klinik wechselt. Er fängt an, autodidaktisch individuelle Psychotherapien bei stationär untergebrachten Kindern und Jugendlichen durchzuführen, auch Elterngespräche und Spieltherapien. Er spricht davon, dass diese Arbeit ihm viel Spaß gemacht habe. In der Kinderabteilung lernt er den »hyperthymen« Erzieher Dieter Albert kennen. Dieser soll Weise bis zum Jahr der friedlichen Revolution begleiten, zuletzt als Leiter der Tagesstätte – und verschwindet dann plötzlich, um seiner Enttarnung als Stasispitzel zu entgehen.


[3] Beerholdt hat nicht der Arbeitsgruppe um Therese Benedek angehört, er beendet seine analytische Ausbildung erst 1937 in Berlin und arbeitet dann auch am »Deutschen Institut für Psychologische Forschung und Psychotherapie« mit, auf Initiative Hans Georg Gadamers wird B. ab 1946 Mitarbeiter des Psychologischen Instituts der Uni Leipzig

[4] Es gibt Hinweise die jedoch nicht ausreichend belegt werden können, dass M.-H. Privatpatienten weiterhin psychodynamisch behandelte vgl. Lemke, J. (1989): Ganz normal anders. Auskünfte schwuler Männer aus der DDR

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